Welt im Umbruch: "Europa muss zusammenrücken, und zwar schnell"

Die Welt ist in Unruhe geraten und auch Deutschland steht an einem Kipppunkt. Transformationsexpertin und Bestsellerautorin Maja Göpel, 48, erklärt, worauf es jetzt ankommt.

Feb 7, 2025 - 17:39
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Welt im Umbruch: "Europa muss zusammenrücken, und zwar schnell"

Die Welt ist in Unruhe geraten und auch Deutschland steht an einem Kipppunkt. Transformationsexpertin und Bestsellerautorin Maja Göpel, 48, erklärt, worauf es jetzt ankommt.

BRIGITTE: Als Europäerin fühle ich mich wie ein Eisbär auf der schmelzenden Eisscholle: Um uns herum regieren skrupellose Männer mit Expansionsgelüsten, dazwischen dümpelt unser kleiner Kontinent, der droht, politisch auseinanderzubrechen, und wärmer wird es auch permanent. Der SPIEGEL hat Sie zur Hoffnungsträgerin 2025 gekürt – können Sie mir etwas Hoffnung machen? 

Maja Göpel: Als Wissenschaftlerin habe ich das große Privileg, häufig mit Lösungen und Initiativen zu tun zu haben, die noch nicht im Rampenlicht stehen – und zu sehen, dass die Dinge im Hintergrund schon viel weiter sind, als wir das in der Öffentlichkeit wahrnehmen.  

Was passiert denn gerade Positives?  

Zum Beispiel sind große Teile der  Wirtschaft schon viel weiter, als die Politik uns das weismachen will. Fast jede Woche hören wir einen Wirtschaftsverband oder einen CEO, der einem politischen Vertreter im Wahlkampf sagt: Nee, das alles wieder zurückzudrehen, das alles wieder zu stoppen – Energiewende, Nachhaltigkeitsbilanzen, Willkommenskultur –, schadet unserem Standort. Damit setzen wir weder die Dynamik frei, die wir brauchen, noch werden wir unsere Technologieführerschaft verteidigen oder die Arbeitsplätze der Zukunft schaffen. So viele haben sich klar positioniert: Die AfD würde nicht nur wegen der Dexit-Fantasien, sondern auch wegen des feindlichen Klimas, das hier entsteht, überhaupt nicht dazu beitragen, Deutschlands Wohlstand zu erhalten. Die Politik lässt sich von der populistischen und rechtsextremen Agitation also viel mehr treiben als die Wirtschaft. 

Klimawandel, Kriege, Rechtsruck: Manchmal habe ich den Eindruck, die Politik agiert an den ganz großen Problemen vorbei. Ist das so? 

Zumindest Teile der Politik. Und es war unklug, den Bürger:innen lange Zeit zu erklären, die Transformation in eine tragfähige Zukunft passiere einfach, ohne dass jemand es merkt – mit ein bisschen Magic ist auf einmal das Neue da, alles ohne Zumutungen. Dieses Verschleppen und Nicht-Benennen, was wir strukturell ändern müssen, fällt uns jetzt auf die Füße. Weil wir erst anfangen zu handeln, wenn uns schon alles wegbricht, statt die Übergangsprozesse klug und vorausschauend zu designen – etwa in der Automobilbranche. Auch das Versprechen, dass man mit dem Rentensystem einfach so weitermachen kann, fällt in diese Kategorie. Und wenn wir unsere Anbauflächen auf diesem Kontinent erhalten wollen, kann auch die Agrarsubventionspolitik nicht so bleiben. Die Politik muss die Rahmenbedingungen in vielen Bereichen komplett ändern und den Realitäten des 21. Jahrhunderts anpassen.    

Und warum tut sie es nicht? 

Weil sie für Zumutungen kurzfristig abgestraft wird. Das zumindest wird medial als "normale" Reaktion der Bürger:innen kultiviert. Außerdem werden die Besitzstandswahrer jetzt in der Krise ziemlich laut und aggressiv und bekommen damit viel Aufmerksamkeit. Und dieses Besitzstandswahren gepaart mit Rücksichtslosigkeit normalisiert sich gerade bei uns. Ich fand es zum Beispiel absolut schockierend, wie die Letzte Generation als "Terrorismus" drangsaliert wurde, obwohl die Leute nur gut sichtbar auf der Straße saßen. Aber vor den Bauern, die Infrastruktur zerstört und Unfälle riskiert haben, weil sie Bäume in der Nacht quer über die Straße gelegt haben, hat man gekuscht.  Den Ärger der Bauern konnte ich zwar verstehen – denn warum sollen nur ihre Subventionen gestrichen werden, die für Dienstwagen aber nicht, obwohl das den Staat viel mehr kostet? Wir brauchen mutige und konsistente Politikpakete, bei denen klar wird, in welche Richtung die Reise für alle geht.

In einem Satz: Was ist das übergeordnete Ziel der gesellschaftlichen Transformation, in der wir uns befinden? 

Im Prinzip geht es um langfristige Versorgungssicherheit, also um eine hohe Lebensqualität mit dem geringstmöglichen ökologischen Fußabdruck.  

Wie können wir dieses Ziel erreichen? 

Einer der wichtigsten Hebel für den Erhalt unserer Lebensgrundlagen liegt zum Beispiel in dem, was wir täglich auf dem Teller haben. Wir akzeptieren eine gesundheitsschädigende Ernährung, für die Tiere gequält, Leiharbeiter:innen ausgebeutet, Böden und Grundwasser verseucht und Regenwälder für Tierfutter vernichtet werden. Und da haben wir noch nicht mal über die Klimakrise gesprochen. Diese ehrlichen Kosten werden der Allgemeinheit serviert – doch wenn man sie benennt, schwingt man gleich die Moralkeule. 

Und es gibt zweifelhafte Vorbilder wie Markus Söder, der auf TikTok demonstrativ Fleisch isst, und Alice Weidel und Friedrich Merz, die sagen, wir reißen die Windräder wieder ab. Das geht in eine ganz falsche Richtung – und trotzdem scheinen viele das gut zu finden. 

Frau Weidel baut und bedient Sorgen und Ängste, um dann mit drastischen Forderungen Sicherheit versprechen zu können. Und bei Herrn Söder beobachten wir eine Faszination dafür, dass "starke" Männer einfach machen, was ihnen in den Kram passt. Seine Richtschnur ist er selbst und seine Beliebtheit.  So wird es jetzt ja auch in den USA vorgelebt.

Warum schaffen es solche reaktionären Akteur:innen, die anderen vor sich herzutreiben? 

Derzeit lösen sich Selbstverständlichkeiten auf und wir ertrinken in Informationsfluten. Viele Menschen sind in der aktuellen Überforderung nicht mehr willens oder in der Lage, die Zusammenhänge zu durchdringen. Sie suchen sich dann eine Figur, der sie folgen, und schlimmstenfalls reicht dann dieses: "Hallo, du hast mein Gesicht so oft gesehen, ich komme dir bekannt vor, dann mach doch dein Kreuz bei mir." Deshalb ist es wichtig, dass die Qualitätsmedien deren Bekanntheitsgrad nicht noch weiter befeuern, indem sie permanent "AfD" in die Titelzeile schreiben, bei kritischen Berichten Fotos der Personen einsetzen und jedes Mal, wenn jemand steile Thesen schwingt, ihm oder ihr die Hauptaufmerksamkeit geben. Sonst bekommen viele das Gefühl, dass eben doch diese Kräfte die wahren Themen setzen – und ihre Bedeutung wächst weiter. 

Wie können wir uns dennoch einen Weg in eine gute Zukunft bahnen?  

Es ist wichtig, dass wir uns nicht an Dogmen wie der Schuldenbremse festklammern, die reines Mittel zum Zweck sind. Vielmehr gilt es, unsere Ziele klar zu formulieren und die Mittel auf dem Weg dorthin immer wieder anzupassen – Wirkung vor Dogma also.  Und je mehr wir als Gesellschaft lernen und adaptieren dürfen, umso eher kommen wir in die notwendige Veränderung. Aber momentan wird bei jedem Schritt sofort geguckt, ob irgendwas schiefgeht, ob der andere einen Fehler gemacht hat. Damit paralysieren sich alle gegenseitig. 

Sie schreiben auf Ihrer Website: "Nachhaltige Zukunft entsteht durch gemeinschaftliche Lernprozesse, verbindliche Regeln und vertrauensvolle Zusammenarbeit." Die Menschheit müsste also als Team kooperieren – doch die scheint eher von Zwietracht geleitet zu sein. Es gibt wenig Bemühen um Verständigung, dafür umso mehr Rivalitäten, Nationalismen, Egoismen. Wie kommt das? 

Kulturell sind wir rasant auf Individualisierung orientiert worden, und dieses "jeder ist nur für sich selbst verantwortlich" ist in Krisenzeiten zusätzlich verunsichernd. Und wenn Egoismus im Menschenbild normalisiert wird, werden die anderen zur Bedrohung, und ich fühle mich nur stark, wenn ich mich gegen sie durchsetze. Das sehen wir in vielen Bereichen der Transformation: Blockade ist das Moment, wodurch Macht empfunden wird. Auch beim Ampelbruch kam die Stärke der FDP irgendwann nur noch aus diesem "Ich blockiere etwas". 

Wie kommt man da raus?

Das könnte man kulturell und durch Kompromissorientierung als Grundwert ändern. Doch das wird von einer unheiligen Allianz aus Politik und medialer Berichterstattung erschwert. Die Nachrichtenportale sind auf Skandalisierung, Personalisierung und Negativberichte ausgerichtet, das kommt mit dem Drang nach Klicks und Quote. Nach einer Klausurtagung wird nicht gesagt: Toll, die haben den Kompromiss gefunden, wie wir den Verkehr in den Griff kriegen. Stattdessen: Guckt mal, der Lindner hat dem Scholz das weggenommen. Der Habeck hat über Flanke gespielt, um da zu gewinnen. Das Ganze wird als Kampf und Nullsummenspiel inszeniert, da bleibt wenig adaptives Entwickeln der besten Lösungen übrig. 

Seit Corona wird der öffentliche Diskurs auch noch von Populismus und Fake News geprägt – und die Tatsache, dass weltumspannende Netzwerke von Facebook bis X auf Faktenchecks verzichten, macht es nicht besser. Haben wir überhaupt noch eine Chance auf eine faktenbasierte Zukunft?  

Elon Musks Ziel ist es, die demokratischen Institutionen zu delegitimieren: die alten Medien, die alten Parteien, die staatlichen Institutionen. Das ist eine bekannte Strategie, um autokratische Herrschaftsformen zu installieren. In seinem Fall wird es dann zur Kleptokratie, weil er sich auch noch die ganzen Regierungsaufträge unter den Nagel reißen will. Für uns heißt das: Europa muss zusammenrücken, und zwar schnell. Wir brauchen die regulative Power, um zu sagen: Das sind manipulierte Sprachrohre von Superreichen und keine offenen Plattformen. Meta schafft das Faktchecking nur in den USA ab, weil die Gesetzgebung in Europa das nicht zulässt. Das muss verteidigt werden. Wir brauchen klare Kante, und auch über Abschalten würde ich offen sprechen, bis zivile Standards für einflussreiche Kommunikationsorte wieder eingehalten werden. Denn an der Ostseite nagt ja der russische Präsident relativ effektiv auf denselben Netzwerken.

Was bedeutet das alles für die anstehende Bundestagswahl? 

Wir brauchen Europa als Sicherheitsanker und als Team für gebündelte Stärke. Die entscheidende Frage ist: Schaffen wir es, die Aufmerksamkeit, das Geld, die Kooperation und die Arbeitskräfte zu bündeln, um zentrale Werte, Geschäftsmodelle und Sicherheiten zu verteidigen und zu einem alternativen Modell zu entwickeln? Nur ein Absender mit der Größe der Europäischen Union wird unsere Region der Welt dazu befähigen; diese Faselei von nationaler Stärke spielt nur den Großmächten in die Hände. Und noch ist alles da! Wir sollten uns weniger an vermeintlichen Erfolgsmodellen messen, bei denen Wohlstand für alle und der Schutz der Lebensgrundlagen keine Rolle spielen. Sicherheit und Handlungsautonomie entsteht anders. 

Werte. Ein Kompass für die Zukunft von Maja Göpel (Brandstätter Verlag, 144 S., 22 Euro)
Werte. Ein Kompass für die Zukunft von Maja Göpel (Brandstätter Verlag, 144 S., 22 Euro)
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Wie gut stehen unsere Chancen, dass wir den Sprung in eine tragfähige Zukunft schaffen? 

Die Transformation in Richtung nachhaltiger Lösungen ist entgegen des destruktiven Abgesangs längst in vollem Gange und wird auch noch immer von einer Mehrzahl der Menschen in Europa gewünscht. Wir haben die tolle Chance, in eine konstruktive Richtung zu gehen, wenn politische und wirtschaftliche Entscheidungen effektiv zusammenwirken und damit auch wieder Aufbruchstimmung und Stolz zurückkehren. Egoistische Gewinnermentalität als Heldentum gehört abgelöst, gerade wenn sie die Konsequenzen des disruptiven Gewinnens auf die Gesellschaft abwälzt. Was wir stattdessen brauchen, ist Führungsqualität, um vereinbarte Ziele zu erreichen, denn das bringt die Sicherheit zurück: Hier wird gemeinwohlorientiert entschieden. Dann haben wir auch wieder das Vertrauen, dass "die anderen" Kooperationspartner sind und gesellschaftliche  Probleme gelöst werden können.