Gespräch mit einem Auschwitz-Überlebenden: Seine Todesnummer, mein Geburtstag

Kurz nach dem Abi trifft unsere Autorin einen Auschwitz-Überlebenden zufällig auf Mallorca. Eine Begegnung, die sie nie vergessen wird. Aus zwei Gründen. 

Jan 27, 2025 - 16:27
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Gespräch mit einem Auschwitz-Überlebenden: Seine Todesnummer, mein Geburtstag

Kurz nach dem Abi trifft unsere Autorin einen Auschwitz-Überlebenden zufällig auf Mallorca. Eine Begegnung, die sie nie vergessen wird. Aus zwei Gründen. 

Es war Anfang Juni 2005. Ich war 18 Jahre alt, hatte gerade das Abi in der Tasche und wartete am Flughafen in Palma de Mallorca auf den Rückflug nach Berlin. Eine Woche Party lag hinter mir und meiner besten Freundin. Dementsprechend müde war ich. Und während ich auf sie wartete, verwickelte mich – aus der Perspektive einer 18-Jährigen – ein sehr alter Mann in ein Gespräch. Ein Gespräch, das ich nie wieder vergessen würde.

"Ich rede dort über meine Vergangenheit."

Ob es mir auf Mallorca gefallen hätte, wo wir gewesen seien und ob ich das erste Mal dort war, fragte er mich und erzählte mir, dass er die Winter immer dort verbringe, die Sommer in Potsdam. Meiner Heimatstadt. Und so plauderten wir über dies und jenes. Er würde oft mit jungen Menschen zusammenkommen und sei häufiger an Schulen, erzählte er.  

"Warum das?", fragte ich.  

"Ich rede dort über meine Vergangenheit."

"Und was haben Sie Spannendes erlebt?"

"Ich war als junger Mann in Auschwitz."

Stille. Für einen kurzen Moment fror die Zeit ein. Der Zweite Weltkrieg, Anne Frank, die Konzentrationslager, Auschwitz – all das hatten wir in der Schule behandelt. Ich aber hatte schon damals noch viel mehr dazu gelesen, hatte Sachsenhausen und Buchenwald gesehen, bin im Anne Frank-Haus in Amsterdam zu Besuch gewesen und viele Biografien von Überlebenden standen damals in meinem Bücherregal. Es mag für manche vielleicht seltsam klingen, aber dass ich jemanden kennenlernen würde, der das unvorstellbare Grauen überlebt hatte und der nun einfach so mit mir über Mallorca plauderte, verschlug meinem 18-jährigen Ich beinahe vor Ehrfurcht die Sprache.

Mit Willi Frohwein auf Mallorca

Der Mann, der in der geschäftigen Flughafenhalle mit mir schwatzte, war Willi Frohwein. Er wurde am 27. März 1923 in Berlin geboren. Sein Vater war Jude, konvertierte aber zum Christentum, um die katholische Mutter heiraten zu können. Vor den Nazis schützte ihn das nicht: Willi Frohwein galt als "Halbjude". 1942 wurde er zur Arbeit in einer Waffenfabrik zwangsverpflichtet. Nach einem Fluchtversuch in die Schweiz kam er nach einigen Zwischenstationen schließlich ins Konzentrationslager Auschwitz. Er überlebte das Lager und die Todesmärsche nach Bergen-Belsen, wo er im April 1945 von den Briten befreit wurde – all das las ich, wieder zu Hause angekommen, im Internet nach.  

Wie gern ich auf dieses Gespräch vorbereitet gewesen wäre. Ich hätte so viele Fragen gehabt, in dem Moment hatte ich aber vor allem Angst: das Falsche zu fragen, die falschen Worte zu wählen. Dabei gab es für ihn gar kein Falsch. Er wollte darüber reden.

Das lange Schweigen

20 Jahre lang hatte Willi Frohwein mit niemandem über Auschwitz gesprochen. Auschwitz sollte nicht mehr Teil seines Lebens sein. Aber die Vergangenheit habe ihn nicht eine Minute losgelassen, erzählt er in einem Zeitzeugengespräch. Erst als es zum Prozess gegen den KZ-Arzt Dr. Horst Fischer kommt, berichtet er das erste Mal von dem Grauen. "Das war der Mann, der an der Rampe stand und mit Fingerbewegungen entschieden hat, wer Leben darf und wer sterben musste." Willi Frohwein war Hauptbelastungszeuge. Zweimal befand er sich schon mit einem Fuß auf dem Lastwagen in die Gaskammern – und wurde jedes Mal kurz vor dem Transport zurückgerufen. Am 8. Juli 1966 wird der "Dirigent des Todes", Dr. Horst Fischer, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit hingerichtet. 75.000 Menschen hat er in den Tod geschickt. Willi Frohwein überlebte. Seit diesem Prozess sprach er über sein Überleben. Und seitdem er das tat, ging es ihm besser. Die Albträume, die ihn jahrelang begleiteten, verschwanden. 

Gänsehaut-Zahl

Jetzt stand Willi Frohwein also vor mir und erzählte mir in breitem Berliner Dialekt, wie wichtig dieser Austausch sei und wie gern er an Schulen Vorträge halte, schließlich lebten auch nicht mehr so viele Überlebende. Aber auch für ihn selbst war es wichtig: "Ich muss es nicht mehr alleine verarbeiten. Ich habe immer das Gefühl, wenn ich in einer Gruppe bin, nehmen mir die anderen was ab", sagt er. 

Bevor wir uns verabschiedeten, um ins Flugzeug zu steigen, zeigte er mir seine Häftlingsnummer, die man ihm in Auschwitz tätowiert hatte: 122785. Noch heute bekomme ich Gänsehaut: Ich bin am 22.7.85 geboren.  

Willi Frohwein starb am 12.12.2009 im Alter von 86 Jahren. Auch wenn unsere Begegnung sehr kurz war, denke ich oft an ihn – besonders in diesen Zeiten.