Artensterben und Blackouts: Der schleichende Tod: Wie die Nachtbaumnatter Guams Vogelwelt auslöschte

Ab den 1960er-Jahren wurde es in den Wäldern der Pazifikinsel Guam still. Gleichzeitig häuften sich Stromausfälle. Erst 20 Jahre später kamen Forschende der Schuldigen auf die Spur

Jan 29, 2025 - 20:47
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Artensterben und Blackouts: Der schleichende Tod: Wie die Nachtbaumnatter Guams Vogelwelt auslöschte

Ab den 1960er-Jahren wurde es in den Wäldern der Pazifikinsel Guam still. Gleichzeitig häuften sich Stromausfälle. Erst 20 Jahre später kamen Forschende der Schuldigen auf die Spur

Guam im Westpazifik: 550 Quadratkilometer waldbedeckte Höhenzüge und palmengesäumte Strände, umgeben von türkisblauem Meer. Weit und breit kein Festland in Sicht. Die Tierarten, die sich vor Urzeiten auf diesem Eiland niederließen, kamen von weit her. Vögel und Fledermäuse nahmen den Luftweg. Die Gelege kleiner Eidechsen trafen per Treibgut-Taxi ein. Für große, flugunfähige Wirbeltiere blieb die Insel Mikronesiens unerreichbar. Selbst Fliegen und Moskitos besiedelten sie erst im Schlepptau der spanischen Konquistadoren. Allein wären sie auf dem Weg über den Ozean vom Winde verweht worden. 

Doch das kleine, friedliche Ökosystem auf Guam erlebte auch dunkle Zeiten. Regelmäßig fegen heftige Taifune über die Insel hinweg. Menschliche Siedler schleppten invasive Arten ein und zerschnitten den Wald mit Straßen, Feldern und Siedlungen. Im Pazifikkrieg errichteten die US-Amerikaner auf Guam einen Luftwaffenstützpunkt, von dem aus sie 1945 Angriffe gegen Japan flogen. Im Gegenzug machte das Artilleriefeuer der japanischen Armee ganze Wälder dem Erdboden gleich. Doch die Natur schien all diesen Umwälzungen zu trotzen. 

Erst in den 1960er-Jahren deutete sich eine ökologische Katastrophe an, die sich im Dickicht der Wälder entfaltete. Im Süden der langgestreckten Insel breitete sich eine bedrückende Stille aus. Die Vögel verschwanden. Und was auch immer sie tötete, es war auf dem Vormarsch. Ende der 70er-Jahre hatte das Vogelsterben zwei Drittel der Insel erfasst. 1985 fanden sich nur noch im Norden kleine Enklaven heimischer Arten. Zwölf Spezies waren in der Wildnis ausgestorben; fünf davon hatten nur auf Guam gelebt.

Blinde Passagiere im Blutrausch 

Was raffte die Vögel dahin? Waren es die Pestizide, die das US-Militär nach dem zweiten Weltkrieg großzügig versprüht hatte, um der Moskitos Herr zu werden? War es eine eingeschleppte Seuche, der das Immunsystem der heimischen Arten nicht gewachsen war? Waren Hunde, Katzen oder der Verlust von Lebensraum schuld? Die Forschenden standen vor einem Rätsel. Erst eine junge Biologin namens Julie Savidge identifizierte in aufwendiger Feldforschung die wahre Schuldige: die Braune Nachtbaumnatter, Boiga irregularis.

Die giftigen Schlangen sind in Indonesien, Australien, auf Neuguinea und den Salomonen beheimatet, wo sie des Nachts leise durch Baumkronen kriechen. Nach Guam gelangten die ersten Exemplare vermutlich Mitte der 1940er-Jahre als blinde Passagiere in einem militärischen Frachttransport. Im Schutz der Wälder und der Dunkelheit breitete sich die Art nahezu unbemerkt aus. 

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1987 publizierte Julie Savidge ihre erste wissenschaftlichen Veröffentlichung über den Siegeszug der Schlangen. Sie erklärte den Erfolg der Nachtbaumnatter mit ihrer enormen Anpassungsfähigkeit – und der Arglosigkeit ihrer Beute. Die Vögel Guams waren noch nie einer Schlange begegnet, und sie besaßen keinerlei Überlebensstrategien. Mit erschreckender Präzision orteten und töteten die Nachtbaumnattern Gelege, Küken, schlafende und nistende Vögel. Wo sie ihre gefiederten Opfer ausgerottet hatten, füllten sie ihre Mägen mit kleinen Echsen und Säugetieren. Auch Fledermäuse fielen ihnen zum Opfer. Die Schlangen hegten eine "liberale Einstellung gegenüber potenziellen Nahrungsquellen", schrieb Gordon Rodda, ein US-Herpetologe, der das Reptil über viele Jahre erforschte.

Als die Dimension des Problems offenbar wurde, hatte die Braune Nachtbaumnatter sich die Insel bereits untertan gemacht. In manchen Bereichen Guams tummelten sich zeitweise bis zu 100 Schlangen pro Hektar. Einige Exemplare krochen sogar in menschlichen Siedlungen durch geöffnete Fenster und bissen schlafende Babys. Zeitweise ging einer von tausend Besuchen in der Notaufnahme auf Attacken von Nachtbaumnattern zurück. 

Ein weiteres Opfer der Baumnattern war das Stromnetz Guams. Manche Vögel retteten sich vor den Räubern, indem sie ihre Nester auf den Relais der Überlandleitungen bauten. Doch auch hier waren sie nicht lange sicher. Die Schlangen lernten, sich wie ein Lasso um die Masten zu schlingen und sich Stück für Stück daran emporzuschieben – eine Technik, die erst 2021 im Detail beschrieben wurde. Krochen sie auf die Stromleitungen und rutschten ab, lösten sie Kurzschlüsse aus – zu Hochzeiten alle zwei Tage einen. Oft saßen viele tausend Menschen im Dunkeln. Zwischen 1986 und 2020 verursachten die Schlangen so einen wirtschaftlichen Schaden von geschätzten 10,3 Milliarden Dollar.

Das Massaker, das die Braune Nachtbaumnatter unter Guams einheimischen Arten anrichtete, hat auch indirekte Folgen. 2017 zeigten Forschende der University of Washington, dass sich die Wälder durch das Verschwinden der Vögel verändern. Viele Baumarten waren darauf angewiesen, dass gefiederte Helfer ihre Früchte fraßen und die Samen in der Umgebung verteilten. Spinnen und Insekten sahen sich plötzlich weniger Fressfeinden gegenüber. Das gesamte Ökosystem verändert sich.

Mit vergifteten Mäusen gegen die Plage

Mitte der 1980er-Jahre begann eine kleine Gruppe amerikanischer Ökologen, die Schlangen zu erforschen und nach Lösungen zu suchen – unterstützt vom örtlichen Stromanbieter und vom Bundesstaat Hawaii, der regen Warenaustausch mit Guam betreibt und eine Invasion der Braunen Nachtbaumnatter fürchtete. Heute wird Fracht, die die Insel verlässt, von Spürhunden untersucht. Die Schlangen werden in Fallen gelockt. Helikopter werfen über Wäldern tote Mäuse ab, die mit dem Schmerzmittel Acetaminophen (Paracetamol) präpariert sind, denn der Wirkstoff hemmt die Blutgerinnung der Schlangen. Das Programm hat Erfolg: Die Zahl der Schlangen ist gesunken, eine Einschleppung nach Hawaii und auf benachbarte Inseln des Archipels konnte bisher verhindert werden. Die Invasoren loszuwerden, erscheint jedoch utopisch.

Naturschützer kämpfen derweil um die Zukunft der Vogelwelt. 2010 wurden nach drei Jahrzehnten der Zucht die ersten Exemplare der Guamralle auf den Nachbarinseln Cocos und Rota ausgewildert, wo sie sich inzwischen fleißig vermehren. 2024 fanden neun Exemplare des Zimtkopfliests, einer in Guam heimischen und dort ausgestorbenen Art, ein neues Zuhause auf dem Palmyra-Atoll. Sie sollen in Schlangenfreiheit eine stabile Population aufbauen – und eines Tages womöglich in ihre Heimat zurückkehren. 

Guam hat derweil mit neuen tierischen Invasoren zu kämpfen. Etwa mit der Kleinen Feuerameise, die 2011 auf der Insel auftauchte und sich vor allem durch schmerzhafte Stiche hervortut. Oder mit dem Palmennashornkäfer, einem landwirtschaftlichen Schädling. Der Kampf um die heimische Flora und Fauna, er wird sobald nicht aufhören.