INSM: „Wirtschaftswarntag“ in Berlin: wenig Teilnehmer, laute Buhrufe

Auch ohne Stargast Friedrich Merz demonstrieren einige Wirtschaftsverbände am „Warntag“ gegen die Politik. Der Organisator ist jedoch umstritten

Jan 29, 2025 - 21:24
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INSM: „Wirtschaftswarntag“ in Berlin: wenig Teilnehmer, laute Buhrufe

Auch ohne Stargast Friedrich Merz demonstrieren einige Wirtschaftsverbände am „Warntag“ gegen die Politik. Der Organisator ist jedoch umstritten

Zunächst fällt ein großer Container ins Auge. „SOS. Die deutsche Wirtschaft ist in Gefahr“ steht in übergroßen Buchstaben darauf, der Hintergrund ist schwarz-rot-gold. Mitglieder der „Familienunternehmer“ verteilen ausgeschnittene Alarmleuchten und Schilder. Einige haben eher allgemeine Forderungen wie „Bürokratie abspecken“, andere haben konkretere Ideen und schreiben schnörkellos schwarz auf weiß: „Nachfolgen sichern durch mehr Abschreibungsmöglichkeiten für private Geldgeber“. 

Auf dem „Wirtschaftswarntag“ vor dem Brandenburger Tor proben die Wirtschaftsverbände den Protest. Organisiert von der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM) gingen laut dieser rund 140 Verbände in mehreren deutschen Städten auf die Straße. Ihre Forderungen: weniger Steuern, weniger Bürokratie, flexibleres Arbeitsrecht. Ein 10-Punkte-Papier hatte die INSM zuvor veröffentlicht. „Nur mit einer umfassenden Wirtschaftswende können die Unternehmen international konkurrenzfähig und der Wohlstand erhalten bleiben“, schreibt die Initiative. Aber kann sie wirklich für die gesamte Wirtschaft sprechen?

Warnungen aus der Wirtschaft seien ignoriert worden

Am Brandenburger Tor wechselten sich die Redner ab, hatten aber ähnliche Forderungen. „Seit Jahren wurden die Warnungen aus der Wirtschaft von breiten Teilen der Politik schlichtweg ignoriert“, sagte Arndt Kirchhoff, Metallarbeitgeberpräsident in Nordrhein-Westfalen. Es brauche eine Politik, die „endlich einen klaren Schwerpunkt auf Wettbewerbsfähigkeit, auf Investition und auch Innovation setzt“. Die Präsidentin des Lobbyverbands der „Familienunternehmer“, Marie-Christine Ostermann, sagte: „Eine Regierung, die ihren Bürgern eine echte und gute Perspektive auf sichere und gut bezahlte Arbeitsplätze bieten will, die muss Weichen stellen, um die großen Strukturprobleme zu lösen“. Der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall Stefan Wolf beteuerte, dass die Unternehmen in Deutschland bleiben wollten, dafür aber bessere Rahmenbedingungen bräuchten.

09-11-24 C+ STERN Habeck Kanzlerkandidatur

Doch trotz aufwendiger Werbekampagne in den Tagen zuvor versammelte sich nur eine kleine Menschenmenge vor dem Brandenburger Tor. Ein paar Gegendemonstranten mischten sich darunter, außerdem verteilten Einzelne das rechtsextreme Magazin „Compact“. Die seien weder eingeladen gewesen noch gebe es irgendeine Kooperation, teilte die INSM auf Nachfrage mit. Immer wieder machten sich die Redner für Vielfalt und eine Willkommenskultur stark. Insgesamt sprechen die Veranstalter von „weit über 1000“, die Berliner Polizei von in der Spitze 450 Teilnehmern.

Auf einem Container steht "SOS - Die deutsche Wirtschaft ist in Gefahr."
Ein Container verkündete das Motto der Demonstration
© Jean MW/Geisler-Fotopress/

Eine davon war Maria Richter-Nordahl, seit 35 Jahren freiberuflich tätig. Als „Outplacement Coach“, die unter anderem entlassenen Arbeitnehmern bei der Suche nach neuen Jobs hilft, dürfte sie zu den Krisengewinnern gehören. Trotzdem ist sie unzufrieden: „Wir haben extrem viele Ausgaben, da muss gekürzt werden“, sagt sie. Vor allem die hohen Beiträge zur Krankenversicherung seien ein Problem. Jan Bura, geschäftsführende Gesellschafterin eines Immobilienunternehmens, hielt ein Plakat mit den Worten „Wirtschaftswende jetzt“. „Ich hoffe, dass Wirtschaftskompetenz wieder Einzug in den Bundestag hält“, sagte sie – dann unterbrach sie kurz, um zu jubeln, als Christian Lindner begrüßt wurde. 

Die Demonstration war überparteilich, doch die politischen Bündnisse sind relativ klar verteilt. Neben Lindner wurden noch andere Politiker der FDP, darunter Bettina Stark-Watzinger, Marco Buschmann und Wolfgang Kubicki begrüßt, außerdem Tilman Kuban und Paul Ziemiak von der CDU. „Die verstehen was von Wirtschaft“, sagte INSM-Geschäftsführer Thorsten Alsleben. CDU-Parteichef Friedrich Merz hatte sich angekündigt, sagte aber kurzfristig ab, um sich auf seine Rede im Bundestag vorzubereiten. Robert Habeck und Olaf Scholz seien eingeladen gewesen, kamen aber nicht – und wären vermutlich auch nicht willkommen gewesen. Immer wieder gab es Buhrufe, als der Wirtschaftsminister erwähnt wurde. „Entscheidend ist nicht, ob ein Kanzlerkandidat sympathisch wirkt“, sagte Familienunternehmer-Chefin Ostermann. „Entscheidend ist, welche Wirtschaftspolitik haben die einzelnen Parteien beschlossen und haben deren Toppolitiker die nötige Wirtschaftskompetenz?“

Schlechte Nachrichten im Jahreswirtschaftsbericht

Habeck stellte zeitgleich den Jahreswirtschaftsbericht vor – und hatte schlechte Nachrichten im Gepäck. Demnach erwartet die Regierung nur noch ein minimales Wachstum von 0,3 Prozent für das laufende Jahr – deutlich weniger als noch im Herbst prognostiziert. Die deutsche Wirtschaftsleistung war die vergangenen zwei Jahre geschrumpft. Die Unternehmer vor dem Brandenburger Tor dürften sich bestätigt gefühlt haben.

Arndt Kirchhoff steht an einem Rednerpult und spricht in ein Mikrofon
Arndt Kirchhoff, Vositzender des Aufsichtsrats der Kirchhoff Gruppe, forderte mehr Gehör von der Politik
© Hannes P Albert/

Doch deren „Warntag“ hat nicht nur Freunde. Er sei „der Versuch einiger Unternehmenslobbys, ihren eigenen Interessen im Bundestagswahlkampf noch mehr Gewicht zu verleihen“, sagte etwa Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung laut der Nachrichtenagentur „Reuters“. „Die Unternehmensverbände weigern sich, Verantwortung für das eigene Handeln und die eigenen Fehler zu übernehmen.“

Tatsächlich steht infrage, inwiefern die Kampagne der INSM tatsächlich als die Stimme der Wirtschaft gelten kann. Die Gruppe ist kein unabhängiger Verein, sondern wird von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie finanziert. Viele der am „Warntag“ beteiligten Verbände und Unternehmen kommen aus der Branche. Der Bundesverband der Deutschen Industrie beteiligte sich dagegen zum Beispiel nicht und gab stattdessen gemeinsam mit den anderen Spitzenverbänden ein Statement heraus, das unter anderem ebenfalls weniger Bürokratie und niedrigere Steuern forderte.

Kritik an fehlender Transparenz

„Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft flankiert die Lobbyarbeit von Gesamtmetall“, sagt Christina Deckwirth, Sprecherin des Vereins „Lobbycontrol“ im Gespräch mit Capital. „Der Name wirkt unscheinbar, aber sie versuchen mit derartigen Kampagnen, Stimmungsmache zu betreiben und so die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Die INSM ist praktisch eine eigene Lobby-PR-Agentur für die Arbeitgeberverbände.“ 

Grundsätzlich hätten diese legitime Anliegen: „Die Lage der Wirtschaft ist ein wichtiges Thema“, sagt Deckwirth. „Aber die INSM setzt auf Angstmache und bietet Scheinlösungen wie ein Schleifen der Klimaziele oder ein Streichen des Solidaritätszuschlags.“

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Die INSM hat auch gute Kontakte in die Politik, vor allem zur CDU. Sie sponserte zum Beispiel auf dem Parteitag im vergangenen Mai die Bänder, die gemeinsam mit Einlasskarten ausgegeben wurden. Die dahinterstehende Metall- und Elektroindustrie gehört zu den größten Parteispenden im laufenden Wahlkampf. Der inzwischen aufgelösten Förderverein der INSM wurde unter anderem gegründet von: Friedrich Merz.

„Wir kritisieren vor allem die fehlende Transparenz. Wer von der INSM hört, weiß erstmal nicht, dass die Lobbyverbände der Metallindustrie dahinterstecken“, sagt Deckwirth. „Hinzu kommt der enge Draht zu einigen Parteien und Politiker:innen, allen voran Friedrich Merz.“

Der dürfte noch einmal Gelegenheit haben, zum Protest der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft zu kommen. INSM-Chef Alsleben kündigte, „nein, drohe an“, den Warntag noch öfter machen zu wollen.