Willenskraft: Überraschendes Glücksrezept: Macht Selbstdisziplin etwa glücklicher?

Selbstkontrolle bedeutet Verzicht und Askese? Und die sind freudlos? Weit gefehlt! Offenbar leben Disziplinierte sogar glücklicher als weniger kontrollierte Menschen 

Feb 2, 2025 - 23:02
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Willenskraft: Überraschendes Glücksrezept: Macht Selbstdisziplin etwa glücklicher?

Selbstkontrolle bedeutet Verzicht und Askese? Und die sind freudlos? Weit gefehlt! Offenbar leben Disziplinierte sogar glücklicher als weniger kontrollierte Menschen 

Sind Sie selbstdiszipliniert? Ende Januar ist vermutlich ein nahezu perfekter Zeitpunkt für diese Frage. Gerade bei mir schnurrte die Selbstdisziplin in Sachen gesunder Ernährung vergangene Woche leider komplett in sich zusammen, als ich nach einer anstrengenden Arbeitswoche die Chipstüte hervorholte, und, nun ja, zügig leerte. 

Gewöhnlich erklärt die Willensforschung solche Pleiten der Willenskraft durch Ego-Erschöpfung: Wurde der Wille zu stark bereits in anderen Bereichen beansprucht, so versanden die Ressourcen der Selbstbeherrschung irgendwann – und es kommt zu Impulsdurchbrüchen aufgrund der Ich-Erschöpfung oder "Ego-Depletion". 

Vermutlich kennen Sie die tröstlich gemeinte Argumentation, dass ein selbstdiszipliniertes Leben doch auch recht langweilig und wenig erfreulich sei. Übermäßig kontrollierte Menschen gelten vielen sogar als unsympathisch. Eine puritanische und mühsame Abstinenz wird oft belächelt und als Spielverderbertum bewertet.  

Der Zusammenhang von Selbstdisziplin und Selbstkontrolle mit Erfolg im Leben ist einleuchtend und wissenschaftlich gut erwiesen. Menschen mit guten Selbstregulationsfähigkeiten, die also Impulse und unmittelbare Triebe zugunsten langfristiger Ziele aufschieben können, zeigen sich als besonders erfolgreich in der Lebensführung. Das legen zahlreiche Langzeitstudien nahe. Die Kandidaten erzielten mehr Erfolge in Schule und Beruf, berichteten von erfüllten sozialen Kontakten und erreichten besser ihre Gesundheitsziele. 

Selbstdisziplin korreliert mit Wohlbefinden 

Geringe Selbstkontrolle wiederum korreliert nach etlichen Studien wenig überraschend mit einer Reihe von individuellen und gesellschaftlichen Problemen: Dazu zählen unter anderem Fettleibigkeit, Drogenmissbrauch, prokrastinierendes Handeln, delinquentes Verhalten und finanzielle Probleme durch Impulskäufe. Auch erhielten weniger disziplinierte Menschen durchschnittlich ein geringeres Gehalt als Zeitgenossen mit hoher Selbstdisziplin.

Der Zusammenhang mit einer erfolgreichen Lebensgestaltung überrascht nicht sonderlich. Wohl aber mutet die neue Erkenntnis paradox und kontraintuitiv an, dass Selbstdisziplin auch mit größerem eudämonischen (Sinn) und auch hedonischen (Genuss) Wohlbefinden sowie Glück verbunden ist. Immerhin dachten viele bisher, dass die Undisziplinierten wenigstens im Augenblick größeren Spaß und intensiveren Genuss erlebten. 

Selbstkontrolle

Die Psychologin Denise de Ridder von der Universität Utrecht widerlegt das nun. Sie hat zahlreiche Längsschnittstudien (sowohl Erwachsenen- als auch Jugendstichproben) interpretiert und erforscht, warum ein besseres Wohlbefinden, ein höheres Maß an Glück und Lebenszufriedenheit mit der selbstdisziplinierten Lebensführung korrelieren. Offenbar faszinierte das selbst viele Forschende. Zwar leuchteten ihnen die Vorteile eines Verzichts zugunsten langfristiger Ziele unmittelbar ein. Dass das Entsagen von angenehmem Verhalten, das häufig mit kurzfristigen Freuden, schnellem Genuss und Spaß einhergeht, auch dem Wohlbefinden und allen gängigen Parametern in der Glücksforschung dient, erlebten auch sie als kontraintuitiv.

Ein Beispiel macht das plastisch: Zwar pflichtet einem jeder bei, dass es sinnvoller ist, für eine Prüfung zu lernen und dafür auf die Feier am Abend zu verzichten – aber dass diese Wahl auch zu mehr Glück und Zufriedenheit führt, überrascht. Schließlich steht vor den Bestnoten die Entsagung und Hemmung von unmittelbaren Lüsten.   

Willenskraft trainieren

Das Team um de Ridder wollte dieses Paradox durch einen Forschungsüberblick erhellen und fand nach der Sichtung zahlreicher Befunde eine eingängige Erklärung. Nach seiner Ansicht gibt es für die Gefühle von Wohlbefinden und Zufriedenheit plausible psychologische Mechanismen. Das Team erklärt das Wohlbefinden mit dem primären Fokus auf positiv formulierte Ziele. Nicht aber würden sich die Disziplinierten auf die Hemmung von unerwünschtem Verhalten oder den Verzicht auf etwas konzentrieren. Die Zufriedenen fokussierten also gar nicht auf Entsagung, sondern auf die strategische Erreichung eines positiven Ziels oder eines Werts in ihrem Leben.

Noch mehr: Allein das Vorhandensein von Zielen und Werten (unabhängig von deren Erreichung) mache glücklich und könne immer wieder zu Flow-Momenten führen, ist de Ridder überzeugt. Ein weiteres Momentum: Die Disziplinierten erlegten sich dazu sogenannte "adaptive Routinen" auf, also passende Gewohnheiten, deren Einhaltung sie glücklich machte. Die klaren Ziele und die erlebte Autonomie führten offenbar auch dazu, dass die Menschen weniger innere Konflikte verspürten und sogar durch Sinnerfahrung belohnt wurden. Schließlich handelten sie ja in Übereinstimmung mit ihren selbst formulierten Werten, Überzeugungen und den selbstgewählten Routinen. Die Erreichung von Zielen durch kurzfristige Impulshemmung verhilft Menschen nach Überzeugung der Psychologie sowieso zu Glücksgefühlen. 

Nach de Ridder besitzen die Selbstkontrollierten zudem ein bestimmtes Talent oder Vermögen. Sie sind besser darin als andere Menschen, ihre Tage zu planen. Dieser Sinn für Struktur sei nach de Ridder zentral für das Wahrnehmen von Sinn im Leben.  

Als Schlaglicht und weitere Erhellung der menschlichen Willenskraft überzeugt mich das. Doch ich frage mich: Was ist mit jenen Momenten, in denen das Ego durch eine anstrengende Woche schwach ist und die Ich-Erschöpfung winkt? Denn gerade ein engagiertes Leben, dem man Sinn und Richtung durch eigene Werte gegeben hat, ist eben für viele auch ein anstrengendes und engagiertes Dasein. Vermutlich hat die Chipstüte da hin und wieder selbst bei den Genies der Selbstdisziplin eine Chance auf ungeplante Impulsdurchbrüche. Zum Glück, oder was denken Sie darüber?