Geordnetes Chaos: Bournemouths Ballbesitzprinzipien gegen Nottingham – MH
Am 23. Spieltag trafen die beiden Überraschungsteams der Premier League aufeinander. Nottingham, seit 9 Spielen ungeschlagen, konnte in dieser Saison bislang mit herausragender Defensivarbeit glänzen. Bournemouth, trainiert von Andoni Iraola und seit nun 12 Spielen ungeschlagen, verfolgt einen völlig anderen taktischen Ansatz als die meisten anderen Teams. So sagte Guardiola in einem Interview gegenüber TNT […]
Am 23. Spieltag trafen die beiden Überraschungsteams der Premier League aufeinander. Nottingham, seit 9 Spielen ungeschlagen, konnte in dieser Saison bislang mit herausragender Defensivarbeit glänzen. Bournemouth, trainiert von Andoni Iraola und seit nun 12 Spielen ungeschlagen, verfolgt einen völlig anderen taktischen Ansatz als die meisten anderen Teams. So sagte Guardiola in einem Interview gegenüber TNT Sports: „Today, modern football is the way Bournemouth, Newcastle, Brighton and Liverpool play.“ Was genau machen diese Teams anders? Der Ansatz von Bournemouth wird anhand des Spiels im Folgenden genauer untersucht.
Die Bedeutung des Spiels
Bournemouths Trainer Iraola war ehemaliger Spieler unter Marcelo Bielsa bei Athletic Bilbao. Bielsa, in der Premier League unter anderem bekannt als Aufstiegstrainer von Leeds United, wurde vor allem durch sein Spiel mit einer besonders hohen Intensität in allen Spielphasen bekannt. Laut Aussagen von Iraola wurde er selbst maßgeblich durch seinen ehemaligen Trainer Bielsa in seiner Spielphilosophie geprägt.
So sagte Iraola gegenüber Sky, damals noch als Trainer von Rayo Vallecano tätig: „I was very lucky to play for him (Bielsa) for two seasons as a player. I think he has another vision of football. They were two very good seasons for us, and, for me, it was a different knowledge.” Außerdem führt Iraola aus: “I use a lot of exercises from Marcelo that I learned from him. I use a lot of things, especially with the ball. Offensively, his teams are very dynamic. He is willing to make all the runs to the space, he is ready to accept this kind of disorder, offensively.“
Iraolas Spielkonzept lässt sich als „geordnetes Chaos“ beschreiben. Ziel ist es nicht, ein positionelles System mit perfekten Abläufen auf den Platz zu bringen. Stattdessen sollen gegnerische Teams Schwierigkeiten in ihrem Spiel durch das Chaosstiften Bournemouths bekommen. Der Gegner soll in ungewohnte, nicht kontrollierte Spielphasen gezwungen werden. Ein besonders wichtiges Konzept ist dabei das hoch intensive, mannorientierte, hybride Angriffspressing, welches den Gegner zu schnellen Ballverlusten und zu einem schnellen Spiel in die Tiefe zwingen soll.
„It is true that we like, and we perform better, in high-tempo games. We need to run a lot. We don’t need so much control, not in every single play, but I think we have the legs, we have the willingness, to go up and down.“ – Iraola
Demenstprechend müssten bei Iraolas Spielweise Probleme gegen tief stehende Mannschaften entstehen, die planmäßig von wenig Ballbesitz profitieren. Diese Mannschaften müssen sich nicht auf das hoch intensive Spiel Bournemouths einlassen, sondern können kompakt gegen den Ball agieren. Sie müssen nicht gegen Bournemouths Angriffspressing flach aufbauen, um kontrollierten Ballbesitz generieren zu können, sondern können sich auf das eigene offensive Umschaltspiel fokussieren. In dieser Saison praktiziert Nottingham eine solche Spielweise am erfolgreichsten. Folglich war es besonders interessant zu beobachten, wie Iraolas Bournemouth gegen den tiefen Block Nottinghams in Ballbesitz agieren würde.
Bournemouth in Ballbesitz
Iraola sagt über seine Philosophie in Ballbesitz:
“We have to prepare [positional] patterns, but we cannot just prioritise them. If you can see that you don’t have a teammate ahead, forget about the pattern, just drive the ball and try to force things to happen. I want him to attack first.”
Hier liegt auch das Problem, auf das ich in der Analyse des Spiels gegen Nottingham gestoßen bin. Wie beschreibt man absichtlich provoziertes Chaos, in dem es kaum feste Muster gibt? Es lassen sich wenige festgelegte Abläufe aus dem positionellen Rahmen erkennen. Die entscheidende Frage lautet dementsprechend: an welchen Orientierungspunkten strukturiert sich Bournemouth in Ballbesitz und welche Spielprinzipien verursachen dieses Chaos? Oder einfach ausgedrückt: Welche „Werkzeuge“ nutzt Iraola in seinem Spiel? Zunächst wird der positionelle Rahmen des Spiels gegen Nottingham untersucht.
Ausgehend von einem nominellen 4-2-3-1 agierte Nottingham gegen den Ball in einem 4-4-1-1 bzw. 4-5-1. Nottingham fokussierte sich zunächst auf das Spiel gegen den Ball und überließ Bournemouth weitestgehend den Ballbesitz. Dieser Ansatz ist typisch für Nottingham. So sammelte das Team von Trainer Simoes Espirito Santo in dieser Saison durchschnittlich gerade einmal 40% Ballbesitz.
Bournemouth agierte in Ballbesitz aus einer positionellen 2-4-4 bzw. 2-3-2-3 Struktur mit breiten Außenspielern und Außenverteidigern. Aus dieser Struktur versuchte Bournemouth den tiefen Block Nottinghams zu knacken. Auf der (linken) Zehn agierte Kluivert, welcher durch seine besonderen Fähigkeiten im Dribbling und seiner hohen Agilität immer wieder auf sich aufmerksam machen konnte. Der zentrale Mittelfeldspieler, Christie, pendelte zwischen dem tieferen Halbraum als rechter Zehner und der Sechser Position.
Nottingham wurde zumeist aus einem höheren Abwehrpressing bis tief in die eigene Hälfte gedrängt. Versuchte Nottingham höher anzulaufen, positionierten sich die Innenverteidiger breit und Torhüter Kepa rückte weit vor in die Torwart Kette. Dadurch konnte der alleinige Stürmer Nottinghams kaum Druck auf den Ballführenden ausüben. Nottingham stand somit tief, ließ sich fallen und attackierte die ballführenden Innenverteidiger nicht.
Vertikales Spiel
„I sometimes value much more a player carrying the ball and forcing things to happen. I think when you play too positional – one, two touches to find a free man – you sometimes lose the initiative from the players to just take their man on and attack the spaces.” – Iraola
Diese Herangehensweise sorgte dafür, dass die Innenverteidiger notwendigerweise immer den stehenden Gegner andribbelten und somit Gegenspieler binden konnten. Es entstanden immer wieder seitlich 5gg4 oder 4gg4 Situationen, verursacht durch das starke seitliche Verschieben von Stürmer Ouattara und Zehner Kluivert in Kombination mit dem Andribbeln der Innenverteidiger. Wenn keine Anspielstation vorhanden war, wurde nicht wieder neu aufgebaut, wie es typisch für positionell agierende Teams wäre. Stattdessen sah man Huijsen, den linken Innenverteidiger Bournemouths, teilweise dribbelnd die letzte gegnerische Linie attackieren. Es lässt sich festhalten, dass ein Spielprinzip Iraolas ist, so früh wie möglich mit Ball vertikal zu attackieren.
Die Situationen auf der Außenbahn bei Andribbeln des Innenverteidigers wurden immer wieder unterschiedlich ausgespielt. Teilweise wurde auf der Außenbahn der Außenspieler angespielt, welcher ins 1gg1 Duell gehen sollte. Dieser wurde immer wieder durch den Außenverteidiger aus der doppelten Breitenbesetzung unterstützt.
Besonders hervorzuheben gilt es die Positionsrotationen der 3-4 Spieler auf Außen. Ständig rotierten Außenverteidiger, Zehner Kluivert, Stürmer Ouattara sowie der Flügelspieler aus ihren Positionen und besetzten unterschiedliche Räume. Interessant war, dass es dabei immer einen dynamischen Tiefenlauf in der Rotation gab, welcher den Gegner zur Absicherung des Laufs zwang und somit Räume zwischen den Spielern schuf.
So kam es auch vor, dass der linke Außenverteidiger, Kerkez, bei Andribbeln des Innenverteidigers im Halbraum die Tiefe suchte. Auch Zehner Kluivert wurde immer wieder gefunden. Er kippte teilweise seitlich ab, um nach Anspiel mit Tempo auf den Block zudribbeln zu können.
Nottingham reagierte darauf ab der 30. Minute und versuchte mehr Druck auf die ballführenden Innenverteidiger zu entwickeln. Aus dem 4-4-1-1 wurde die Mannorientierung auf Sechser Adams aufgehoben. Stattdessen wurde aus einem 4-4-2 versucht, Sechser Adams in den Deckungsschatten zu bringen und dadurch früher auf den Innenverteidiger rausrücken zu können. Allerdings spielte Kepa so hoch in der Torwartkette mit, dass er die nun noch breiter positionierten Innenverteidiger auch weiterhin anspielen konnte, welche somit andribbeln konnten.
Die Magie der Dribblings
“I would say they have the freedom to risk a little bit in the dribbles.“ – Iraola
Ein weiteres wichtiges Spielprinzip des Ballbesitzspiels sind diagonal, vertikale Dribblings. Diese dienen als Chaosfaktor und werden auf allen Positionen ständig genutzt. So lange kein Spieler besser zum gegnerischen Tor positioniert ist, wird den Spielern die Freiheit gewährt, zu dribbeln. Die dribblingsstarken Außenspieler, Stürmer und Zehner Kluivert passen hervorragend zu diesem Prinzip. Die mit Hilfe der beschriebenen Rotationen geöffneten Räumen zwischen den gegnerischen Spielern auf Außen wurden von Bournemouth zumeist erdribbelt, statt bespielt.
Der Ursprungsgedanke des Fokus auf Dribblings liegt dabei dem des Relationismus ziemlich nahe. Es geht darum, eigene Entscheidungen für den Gegner weniger vorhersehbar zu machen und gewissermaßen Chaos zu verursachen. Das klassische Positionsspiel nimmt den eigenen Spielern individuelle Freiheiten und somit auch den „Überraschungsmoment“. Dennoch ist die Ausführung von Iraolas Ballbesitzspiel im Verhältnis zum Relationismus eine völlig andere.
Anstatt durch eine engere Struktur Spieler ins Kombinieren zu bringen, werden mit Rotationen und größeren Abständen zwischen den Spielern Räume geschaffen, die erdribbelt werden sollen. Wichtig ist, dass diese Dribblings immer als vertikale Aktion ausgeführt werden, um den Gegner fortwährend in Verteidigungsstress zu bringen und dadurch andere Optionen freizuziehen.
Strafraumbesetzung
Aufgrund größerer Räume auf Außen werden viele Dribblings auf der Außenbahn mit Hilfe der doppelten Breitenbesetzung aus Flügelspieler und Außenverteidiger gesucht. Um eine erfolgreiche Anschlussaktion gegen tief stehende Gegner zu erzwingen, ist eine gute Boxbesetzung Grundvoraussetzung. So belaufen Iraolas Mannschaften mit bis zu 7 Spielern den gegnerischen Strafraum und drängen den Gegner unmittelbar vor das eigene Tor. Dabei geht es nicht unbedingt darum, den freien Mitspieler zu finden, sondern die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, nach einer Flanke im Strafraum an den Ball zu kommen. Auch zweite Bälle spielen somit eine große Rolle.
Gegenpressing und Restverteidigung
Risikoreiche Dribblings haben zudem den Vorteil, häufigere Umschaltaktionen zu fördern. Der Gegner versucht offensiv umzuschalten und gibt die defensiv kompakte Staffelung auf. Durch die variable Restverteidigung Bournemouths kann der Ball nach Ballverlust sofort wieder erobert werden. Bournemouths Restverteidigung besteht aus 3-4 Spielern, je nach Angriffsstruktur. Zusätzlich zu den beiden Innenverteidiger sichert Sechser Adams und der invertierte, ballferne Außenverteidiger ab. Sind beide Außenverteidiger oder Sechser Adams offensiv eingebunden, lässt sich Christie zurückfallen und schiebt ballnah ein.
Zum einen gilt es das gute Gefühl der beiden zentralen Mittelfeldspieler Adams und Christie für mögliche Ballverluste hervorzuheben. Die Antizipation dieser Momente und das gute Raumgefühl sorgen für viele erfolgreiche Gegenpressingmomente. Zum Anderen gilt es das sofortige Attackieren des ballführenden Gegenspielers nach Ballverlust hervorzuheben, wodurch der Gegner kaum kontrollierte Ballbesitzphasen generieren kann. Nottingham fand in der ersten Halbzeit offensiv kaum statt. Erfolgreiche offensive Umschaltaktionen von Simoes Espirito Santo‘s Team waren eine absolute Seltenheit.
Offensives Umschalten
Ein weiteres Spielprinzip Bournemouths ist, dass nach Ball(rück)eroberung die erste Aktion sofort in die Tiefe geht. Ganz im Gegensatz zu klassisch positionellen Teams wird in Chaossituationen keine Kontrolle durch Ballbesitz gesucht sondern Kontrolle durch ständiges Umschalten. Der Gegner soll nicht zur Ruhe und in die gewohnte Ordnung kommen. Das führt zu einer hohen Intensität für den Gegner Bournemouths. Dementsprechend musste Bournemouth den defensiven Block Nottinghams teilweise erst gar nicht bespielen, da sie erst gar nicht in die gewohnte Struktur fanden.
So wurde generell nach Ballgewinn Bournemouths sofort der Weg in die Tiefe in den Druck gesucht. Bei einer tieferen Positionierung Bournemouths (näher am eigenen Tor) beliefen die Spieler in den vorderen Zonen sofort die Tiefe, um vertikale Anspielstationen zu schaffen. Selbst wenn der Ballgewinnende Spieler Bournemouths sofort unter Druck gesetzt wurde, ging die erste Aktion in die Tiefe.
Zur Not wurde ein hoher Ball auf die gegnerische letzte Linie geschlagen und der Fokus auf zweite Bälle gelegt. Dieses Pressingspiel mit Fokus auf zweiten Bällen – auch bekannt als „Kick n Rush“ – sorgt für weitere erzwungene Umschaltsituationen, in denen der Gegner nicht in die gewohnte Staffelung findet. Das 4 der 5 Tore Bournemouths aus absichtlich provozierten Umschaltsituationen gegen den eigentlich tief stehenden Gegner Nottingham fielen, zeigt die Effektivität dieser Spielweise deutlich.
Nottinghams Angriffspressing
Zur zweiten Halbzeit stellte Nottingham auf Angriffspressing um. Es sollten mehr Torchancen kreiert werden, um den 1:0 Rückstand aufzuholen. Nottingham konnte Bournemouth allerdings nicht, wie geplant, in der eigenen Hälfte einschnüren. Stattdessen spielte Bournemouth hohe gezielt Bälle auf einen der 4 vorderen Angreifer oder die halbhoch positionierten Außenverteidiger. Durch eine Kombination aus gewonnenen zweiten Bällen, Dribblings und für das Ablagespiel nachrückende Sechser konnte Bournemouth daraus sehr schnell die Tiefe finden und das Spielgeschehen aus der eigenen Hälfte lenken. In der Folge fielen ziemlich schnell das zweite und dritte Tor für Iraolas Mannschaft. Das Endergebnis lautete 5:0.
Das Chaos
Wodurch wird das Chaos im Ballbesitzspiel also nun verursacht? Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es eine Kombination aus den genannten Spielprinzipien ist: so früh wie möglich vertikal spielen; so lange kein Spieler besser zum gegnerischen Tor positioniert ist, wird diagonal, vertikal gedribbelt; nach Ballgewinn geht die erste Aktion in die Tiefe. Der Fokus des Ballbesitzspiels auf vertikalen Zonen (Orientierungspunkt= Gegenspieler) sowie auf zweiten Bällen (Orientierungspunkt=gegnerisches Tor) sorgt für ein intensiveres und dynamischeres Spiel, bei dem der Gegner kaum in seine gewohnte Struktur findet. Dazu hilft Bournemouth das in diesem Artikel nicht näher untersuchte Spiel gegen den Ball im Angriffspressing, welches weitere Umschaltsituationen provoziert.
Was könnten sich Teams bei Bournemouths Ballbesitzspiel abschauen, ohne die eigene Spielphilosophie über Bord zu werfen? Dazu zählt definitiv der Mut, andauernd die Tiefe zu suchen unter der Voraussetzung geeigneter Gegenpressingstrukturen. Auch die Dynamik der Einzelaktionen ist bei Bournemouth bemerkenswert. Selten habe ich explosivere Läufe in die Tiefe bei anderen Teams gesehen.
Fazit
Die Abschlussfrage lautet, welche Gemeinsamkeiten haben die von Guardiola im eingangs erwähnten Interview genannten Mannschaften? Alle Teams attackieren schnell und häufig die Tiefe, was das Spiel wahnsinnig dynamisch und intensiv macht. Es sorgt für schneller zu treffende Entscheidungen beim Gegner. Schließlich ist der Hauptunterschied zwischen guten und sehr guten Spielern die Zeit, in der eine gute Entscheidung getroffen wird. Meine Empfehlung lautet, sich Spiele von vor 30 Jahren anzuschauen. Es wird ziemlich schnell deutlich, dass der Fußball schneller und anspruchsvoller geworden ist.
“For me, the players are better than in 2003. They have to do the same things, but much faster. The physical demands are ridiculous. I doubt I could have played at this rhythm.” – Iraola
Autor: MH ist Fußball-Aficionado von Herzen. Seine Wohnung gleicht einer Fußball-Bibliothek in deren Regalen Bücher über die großen Taktiker von Rinus Michels bis Pep Guardiola stehen. Das Buch von Spielverlagerung.de fehlt hier natürlich nicht. Für MH ist Fußball nicht nur ein Spiel. Es ist ein Lebensgefühl. Auf X ist er unter Mh_sv5 zu finden.