Ukrainekrieg: In Russlands Streitmacht werden Geschützrohre knapp

Die Materialverluste der russischen Armee in der Ukraine sind gigantisch. Westliche Experten gehen davon aus, dass der Nachschub bei Geschützrohren hakt. Vor allem fehlt Russland eine Maschine aus Österreich

Jan 22, 2025 - 18:23
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Ukrainekrieg: In Russlands Streitmacht werden Geschützrohre knapp

Die Materialverluste der russischen Armee in der Ukraine sind gigantisch. Westliche Experten gehen davon aus, dass der Nachschub bei Geschützrohren hakt. Vor allem fehlt Russland eine Maschine aus Österreich

Mit mindestens 1500 Tonnen Gewicht schlagen vier monströse Hammerköpfe vollkommen synchron von allen Seiten auf das rotglühende Stahlrohr, während ein riesiger Manipulator das tonnenschwere Werkstück dreht und dabei langsam immer tiefer in den dampfenden Schlund der stampfenden Schmiede schiebt. Bis zu 240 Schläge pro Minute formen, strecken und härten den Rohling, während ihm ein Ziehdorn im Inneren das gewünschte Profil gibt.

Meistens werden mit solchen Radialschmieden Rotorwellen für Elektroautos, Getriebestangen, Hochdruckrohre für Kraftwerke oder Teile für künstliche Hüftgelenke geformt. Doch in der Rüstungsfabrik „Titan-Barrikaden“ in Wolgograd, die die Wehrmacht einst bei ihrem Angriff auf die Industriemetropole zerstörte und deren Eingang deshalb immer noch eine Gedenkwand für die Helden des Großen Vaterländischen Kriegs ziert, wird damit eines der wichtigsten Bauteile für Putins eigenen Überfall auf die Ukraine geschmiedet: Kanonenrohre.

Die Geschütze und Panzer, die die russische Armee gegen Kiew ins Feld führt, feuern daraus. Spätestens nach mehreren Tausend Schuss sind die Rohe ausgeleiert und müssen getauscht werden. Meist gehen sie schon lange vorher verloren, weil die ukrainische Armee die Waffen zerstört. Fast 3700 Panzer und rund 1300 Artilleriesysteme soll Moskau laut Erhebungen von Open-Source-Analysten, die frei zugängliches Bild- und Videomaterial von zerstörtem Kriegsgerät auswerten, seit Beginn des Kriegs verloren haben. Die Ukrainer gehen sogar von über 15.000 zerstörten Geschützen aus.Ist Putins Schattenflotte mit neuen Sanktionen zu stoppen?

Die Radialschmieden, mit denen Russland Ersatz für seine Panzer und Artillerie fertigen kann, sind daher ein unersetzbares Rad im Getriebe des Angriffskriegs. Sie könnten bald zum verhängnisvollen Flaschenhals für die russische Kriegsmaschine werden. Denn die Geschützrohre, die im Donbass, bei Kursk oder Cherson jeden Tag ukrainische Soldaten und Zivilisten töten, werden zwar in Fabriken hinter dem Ural montiert. Aber die Spezialmaschinen, auf denen sie hergestellt wurden, kamen bisher aus dem Westen: aus Steyr in Oberösterreich.

Flaschenhals in der Materialschlacht mit dem Westen

Dort wurde die Technologie erfunden, vom österreichischen Maschinenbauer GFM. Bis heute stellt er einen Großteil aller auf der Welt im Einsatz befindlichen Radialschmieden her. „Unter den Engpässen bei den Waffen steht an erster Stelle Russlands Unfähigkeit, großkalibrige Kanonen zu ersetzen“, schreiben Marc De Vore von der Universität von St. Andrews und Alexander Mertens, Professor an der Kiew-Mohyla-Akademie, in „Foreign Policy“. Demnach ist Moskaus größtes Problem derzeit nicht etwa, dass die Artilleriemunition ausgeht und sie deshalb wie auch frische Soldaten aus Nordkorea beschafft werden muss. „Bei der Kombination der derzeitigen Verlustraten auf dem Schlachtfeld, der Wiederverwendung aus Beständen und der Produktion sieht es so aus, als würde Russland irgendwann im Jahr 2025 keine Kanonenrohre mehr haben.“

Auch der britische Thinktank RUSI kam im Oktober zu einer ähnlichen Einschätzung. Demnach gibt es in Russland nur noch vier Fabriken, die überhaupt Geschützrohre herstellen können. Neben den Titan-Barrikaden sind das die Fabrik Nr. 9 in Jekaterinburg, die Motowilicha-Werke in Perm und das nationale russische Artillerieforschungs- und Entwicklungszentrum in Nischni Nowgorod, wo es allerdings nur Produktionsanlagen zur Erprobung gibt. Laut Pavel Luzin, einem Experten für die russische Militärindustrie am Washingtoner Thinktank CEPA, den auch der britische „Economist“ zitiert, soll es in Russland sogar nur noch zwei einsatzbereite Radialschmieden von GFM geben.

Daraus ergibt sich eine einfache Rechnung: Jede der Maschinen kann nur etwa 100 Geschützrohre pro Jahr herstellen. Bei der derzeitigen Verlustrate verbrennt Russland aber allein in einem Monat Hunderte Panzer- und Geschützrohre. Findet Moskau keinen Weg, sie zu ersetzen, wäre die russische Kriegstaktik, ukrainische Städte und Stellungen mit der Feuerwalze zu überrollen, am Ende. Und der russische Vormarsch bald vorbei.

Ohne westliche Technik kann Moskau keinen Krieg führen

Schon seit Beginn des Kriegs versucht der Kreml daher gar nicht erst, genug neue Rohre selbst zu schmieden, um die Verluste auszugleichen. Sondern ersetzt sie mit riesigen Altbeständen aus Sowjet-Zeiten. Für Moskau war der Krieg von Anfang an ein Kampf der Lagerhäuser: Die russische Armee hat inzwischen Tausende alte T-72, BMP-Schützenpanzer oder Uralt-Kanonen wieder flottgemacht oder mit deren ausgeschlachteten Rohren beschädigtes Material repariert. Doch wegen der horrenden Materialverluste in der inzwischen drei Jahre dauernden „Spezialoperation“ leeren sich die riesigen Panzer-Parkplätze rapide.EU-Werften warten Russlands arktische LNG-Tanker

Womöglich rächt sich nun bald Moskaus Entscheidung, kriegswichtige Technologie wie Radialschmieden nicht selbst herzustellen. Es ist eine Strategie, die sich überall in der russischen Rüstungsindustrie zeigt: Sie ist technologisch seit dem Kalten Krieg unterlegen und versucht daher in kritischen Bereichen gar nicht erst, eigene Technik zu entwickeln. Sondern schmuggelt oder importiert sie lieber gleich aus dem Westen.

Statt eine eigene Halbleiterindustrie aufzubauen, kauft Moskau etwa seit Sowjet-Zeiten westliche Mikrochiptechnik und umgeht Exportkontrollen über Mittelsmänner. Im KGB gab es dafür sogar eine eigene Abteilung: „Linie X“. Bis heute muss Russland daher Komponenten für seine Raketen und Marschflugkörper im großen Stil über ein Netz aus Tarnfirmen in China und anderswo einschmuggeln.

Die Lieferkette für Geschützrohre verläuft nicht ganz so klandestin: Zwischen 1967 und 1983 hat GFM gut zwei Dutzend Radialschmieden in die damalige Sowjetunion geliefert. Das geht aus einem inzwischen freigegebenen CIA-Bericht hervor, den auch das RUSI zitiert. Auch GFM selbst bestätigt die Lieferungen auf Anfrage von ntv.de. Neben Maschinen für kleinere Kaliber und Gewehre waren darunter laut CIA auch vier große Radialschmieden, die geeignet für Panzer- und Geschützrohre waren, darunter eine für die Motowilicha-Werke in Perm. „Dezidiert für die Fertigung von Geschützrohren wurden bis heute zwei Maschinen geliefert“, teilt GFM mit.

Nur China kann Putin retten

Was genau seitdem mit den Maschinen passiert ist, ob sie zivil oder militärisch genutzt wurden und wo und wie sie heute womöglich noch laufen, darüber hat GFM laut eigenen Angaben keine Erkenntnisse: Seit den Sanktionen 2014 nach der Krim-Annexion habe es bezüglich der alten Motovilicha-Maschine keinen Kontakt mehr gegeben. „Zuletzt von GFM nach Russland geliefert wurde eine kleine Schmiedemaschine im Jahr 2019, die aber natürlich aufgrund der Größe nicht für Geschützrohre verwendbar ist.“Russland leidet unter der Kriegswirtschaft

50 Jahre sind die Stahlgiganten im Schnitt im Einsatz und dürften damit wohl am Ende ihrer Lebensdauer angekommen sein. Der Gebrauchtmarkt ist eher überschaubar. Eine Neuentwicklung in Eigenregie ergibt für Russland aufgrund der hohen Kosten kaum Sinn. Nachbauten gibt es zwar in China, aber die bieten nicht die gleiche Qualität wie die GFM-Originalmaschinen.

Putin bleiben also kurzfristig kaum Wege, an neue Radialschmieden und damit mehr Kanonenrohre für seine Kriegsmaschine zu kommen. Weder Nordkorea noch Iran haben laut De Vore und Mertens ausreichende Bestände. Man könne zwar nicht genau vorhersagen, wann Moskau seine Depots aufgezehrt habe, schreiben die Forscher. „Aber es gibt wenig, was der Kreml tun kann, um abzuwenden, dass dieser Tag kommt.“ Einzig China könne Putin aus der Patsche helfen und sich entscheiden, Moskau mit eigenen Rohren zu versorgen. Oder gleich eigene GFM-Schmieden nach Moskau schicken.

Denn dorthin wurde anders als nach Russland reichlich geliefert: Wie für alle Maschinenbauer sei China auch für GFM „ein sehr wichtiger Markt“, vor allem die dortige Autoindustrie, teilen die Österreicher mit. Man verkaufe jährlich weltweit etwa ein bis zwei Maschinen der Größe, auf denen theoretisch auch Kanonenrohre geschmiedet werden könnten, „circa 50 Prozent im Mehrjahresschnitt nach China.“ Dort würden damit in Stahlwerken „Stangen und Rohre“ hergestellt, „soweit wir das wissen“.

Schattenfabriken für geheime Waffenproduktion?

Es wäre also vermutlich für Peking ein Leichtes, Moskau passende Radialschmieden zu schicken, falls es nötig werden sollte. Eine ganz so lineare Rechnung, wie die britischen und US-Militärexperten sie aufmachen, ist die Aufzehrung der russischen Kanonenbestände daher womöglich nicht: „Wenn die Maschinen ausgeleiert sind und die Russen neue brauchen, werden sie sie bekommen“, glaubt auch der österreichische Militärexperte Oberst Markus Reisner im Gespräch mit ntv.de. „Entweder über Zwischenhändler oder sie werden von China geliefert. Es ist bislang nicht zu erkennen, dass die Chinesen auch bei diesen Engpassgütern auf der Bremse stehen würden.“FT Übersetzung Russland Inflation

Womöglich ist das aber auch gar nicht nötig. Eventuell hat sich Russland lange vor dem Überfall auf Kiew heimlich mit neuen Maschinen eingedeckt – und betreibt nun bislang unbekannte Schatten-Fabriken. An das Elektrostal-Metallwerk, etwa eine Stunde östlich von Moskau, hat nicht nur GFM schon zu Sowjet-Zeiten zwei der vier großen bekannten Radialschmieden verkauft, mit denen sich Geschützrohre herstellen lassen. „Militärische Anwendung möglich“ merkte damals schon der CIA-Bericht an.

Auch der größte GFM-Konkurrent, die deutsche SMS-Gruppe, hat laut eigenen Angaben zwischen 2011 und 2018 eine neue, hochmoderne Radialschmiede dorthin geliefert. Offiziell stellt die Fabrik damit keine Rüstungsgüter her, sondern angeblich etwa hochlegierten Spezialstahl für die Luft- und Raumfahrtindustrie. Aber mit der Maschine können Durchmesser bis 60 Zentimeter geschmiedet werden – mehr als ausreichend für großkalibrige Geschützrohre. 2004 fanden sich sogar noch Fotos der alten GFM-Radialschmiede auf der russischen Version der Elektrostal-Webseite, wie das ukrainische Portal Tochny herausgefunden und ntv.de verifiziert hat. Inzwischen sind alle Hinweise darauf gelöscht worden. Moskau vermeide es tunlichst, Aufmerksamkeit auf die Fabrik zu lenken, heißt es bei „Tochny“: „Sie liegt in Reichweite ukrainischer Drohnenangriffe.“

Auch das US-Militär hat heute übrigens nur eine einzige Fabrik, in der laut US-Armee die Geschützrohre für Abrams-Panzer und M777-Haubitzen produziert werden, die auch in der Ukraine im Einsatz sind: Watervliet Arsenal in New York. Dort steht seit 1976 ebenfalls nur eine einzige SXP-55 Radialschmiede von GFM, wie sie die Steyrer damals auch ins sowjetische Motowilicha-Waffenwerk in Perm und an Elektrostal bei Moskau geliefert haben. Der US-Kongress hat 2023 beschlossen, die Fabrik für 1,7 Mrd. Dollar zu modernisieren. Unter anderem soll eine brandneue Radialschmiede aus Österreich angeschafft werden. Der Westen hat also keinen Engpass bei Panzern und Kanonen zu fürchten. Anders als Russland kann er bei Bedarf einfach ohne Umwege neue Maschinen kaufen.

Der Beitrag ist zuerst bei ntv.de erschienen. Das Nachrichtenportal gehört wie Capital zu RTL Deutschland.

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