Eigenverantwortung in Zeiten der Ohnmacht [Gesundheits-Check]
Die Eigenverantwortungsrhetorik gehört zum traditionellen Inventar aller politischen Interessengruppen, die den Wohlfahrtsstaat ablehnen, weil sie in Nullsummenstrukturen denken. Wobei es in gewissem Maße sogar zutrifft: „Reicher Mann und armer Mann standen da und sahn sich an. Und der Arme sagte bleich: Wär‘ ich nicht arm, wärst du nicht reich“, schrieb Bert Brecht vor fast 100…
Die Eigenverantwortungsrhetorik gehört zum traditionellen Inventar aller politischen Interessengruppen, die den Wohlfahrtsstaat ablehnen, weil sie in Nullsummenstrukturen denken. Wobei es in gewissem Maße sogar zutrifft: „Reicher Mann und armer Mann standen da und sahn sich an. Und der Arme sagte bleich: Wär‘ ich nicht arm, wärst du nicht reich“, schrieb Bert Brecht vor fast 100 Jahren nicht ganz zu Unrecht. In der Regel profitiert jemand von Ausbeutung. Aber es spricht auch einiges dafür dafür, dass es allen besser geht, wenn es allen besser geht: “Gleichheit ist Glück”, etwas unglücklich auf einen Buchtitel gebracht.
Gemeint ist mit „Eigenverantwortung“ im modernen politischen Diskurs immer die der Menschen, die sich oft nicht selbst helfen können. „Eigenverantwortung haben immer die Anderen“, war ein instruktives Buch der Gesundheitswissenschaftlerin Bettina Schmidt 2007 betitelt. 2007, zufälligerweise der Beginn der Weltfinanzkrise, die die Übermacht der Verhältnisse über das individuelle Verhalten eigentlich jedermann deutlich vor Augen hätte führen können. Wenn sonst nicht viel bleibt, will der eine oder andere nicht auch noch auf die Zigarette oder das Bier verzichten, nur weil es gesünder wäre.
Gerade erleben wir wieder eine Konjunktur des Eigenverantwortungsdiskurses. Wir arbeiten angeblich alle zu wenig und müssen mehr leisten, in den Betrieben ist der Krankenstand zu hoch, weshalb Karenztage nötig seien (sprich: die meisten sind gar nicht krank), mehr Selbstbeteiligung im Gesundheitswesen sei nötig, z.B. eine Praxisgebühr, und bis zu 20 % bei den Arzneimitteln, konnte man schon lesen (sprich: die Leute nutzen in Form eines moral hazard das kostenlose Angebot aus), bei der Rente soll mehr selbst vorgesorgt werden und auch sonst sind unsere Ansprüche an den „Nanny State“ einfach zu hoch. Dafür sollen Umwelt- und Arbeitsschutzstandards, subsummiert unter „Bürokratie“, radikal runter. „Disruptiv“, wie es in FDP-Neudeutsch heißt, nach dem Vorbild von Musk und Milei. Kampf gegen den Klimawandel war gestern und mancher von den Reichen sorgt vielleicht für den Notfall mit einem Grundstück in Grönland vor, ganz eigenverantwortlich.
Es sind wieder Zeiten, in denen man eigentlich die Grenzen der Eigenverantwortung, zumindest unter sonst unveränderten Verhältnissen, nur zu gut erkennen kann. Von heute auf morgen ist die Autoindustrie mit ihren – für die Kernbelegschaften – guten Löhnen in die Krise geraten, für die Energiekosten können die meisten Menschen auch nichts, ebensowenig wie für Trumps Eskapaden mit ihren weltpolitischen Verwerfungen. Die Familien Porsche und Piech und andere der „Crazy Rich“ lassen bisher keine Eigenverantwortung erkennen. Leute wie sie, bis vor kurzem auch Musk, gelten im Gegenteil als Verkörperung von Eigenverantwortung. Was haben sie nicht durch ihren Einsatz über Generationen alles aufgebaut!
Der Vorwurf mangelnder Eigenverantwortung – er trifft immer die kleinen Leute. Nicht „die Anderen“, sondern uns. Unsere Verantwortung sollten wir natürlich wahrnehmen, aber sie beschränkt sich sicher nicht darauf, den Gürtel enger zu schnallen, jeder für sich, damit andere auch in der Krise noch reicher werden können. Die Verhältnisse lassen sich im Prinzip durchaus verändern. „Empowerment“ hieß das noch vor kurzem in den Gesundheitswissenschaften, als die Resignation der Hoffnung, gemeinsam den Alltag gesundheitsförderlicher gestalten zu können, sich noch nicht durch das Rückenmark ins Hirn geschlichen hatte und Prävention zur Lauterbachschen „Vorbeugemedizin“ degeneriert ist – gesundheitspolitisch verzwergt durch Individualisierung und Medikalisierung. Man darf auch die neuerdings so gehypte „Gesundheitskompetenz“ nicht darauf reduzieren, zu wissen, ob man 10.000 Schritte täglich gehen muss oder schon 9.000 reichen, oder wie viele Kalorien Dubai-Schokolade hat. Gesundheitskompetent ist, wer weiß, wie Gesundheit und soziale Lage zusammenhängen und zur Gesundheitskompetenz trägt auch bei, zu verstehen, was die Parteien am 23. Februar anbieten und was davon realistischerweise umgesetzt wird.
Die die Möglichkeiten, am 23. Februar viel zu bewirken, mögen begrenzt sein, aber immerhin kann man hierzulande noch – ganz eigenverantwortlich – die kleineren Übel wählen. Und sich danach mehr einbringen.
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